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Wer Angehörige pflegt, braucht auch im Betrieb Unterstützung
Die Fachtagung „Vereinbarkeit Pflege & Beruf – Gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen“, zu der der Verein wir pflegen NRW am 11. Oktober 2024 nach Dortmund eingeladen hatte, zeigte, dass Arbeitgebende mit einer pflegesensiblen Unternehmenskultur punkten können.
Silke Völz vom Gelsenkirchener Institut Arbeit und Technik (IAT), die die Ergebnisse einer Unternehmensbefragung zur betrieblichen Unterstützung von pflegenden Angehörigen vorstellte, lieferte zum Auftakt beeindruckende Zahlen: In Nordrhein-Westfalen (NRW) waren Ende 2021 etwa 1,2 Millionen Menschen pflegebedürftig. Die allermeisten davon – über 86 Prozent – werden zu Hause von Angehörigen versorgt. Vorsichtige Schätzungen gehen von mindestens 600.000 erwerbstätigen pflegenden Angehörigen in NRW aus – bundesweit sogar 3 Millionen. Das heißt, diese Menschen gehen in Voll- oder Teilzeit einer beruflichen Tätigkeit nach und kümmern sich gleichzeitig um die häusliche Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen.
Die Ergebnisse der Befragung machen sichtbar, dass die meisten Unternehmen die Relevanz des Themas Pflege für den eigenen Betrieb zwar erkannt haben. Welche ihrer Mitarbeitenden Beruf und Pflege vereinbaren müssen, ist dagegen oft nicht bekannt. „Unternehmen sind Profiteure gelingender Vereinbarkeit und haben eine wichtige Rolle in der Unterstützung der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Ihnen fehlen jedoch häufig Fachwissen und Ressourcen“, so Völz.
Dr. Notburga Ott, Vorstandsvorsitzende von wir pflegen NRW, wies in ihren Erläuterungen zu den arbeits- und sozialrechtlichen Rahmenbedingungen darauf hin, dass diese teilweise zu starr geregelt seien. „Pflegezeitgesetz und Familienpflegezeitgesetz sind wichtige gesetzliche Schritte. In ihrer Ausgestaltung sind sie aber weit von der Realität pflegender Angehöriger entfernt“, kritisierte sie. Das zeige sich auch in der geringen Inanspruchnahme. Oft sei es für pflegende Angehörige einfacher, sich selbst krank zu melden, wie mehrere Wortmeldungen aus dem Publikum bestätigten.
Interessante Einblicke in die betriebliche Situation pflegender Angehöriger lieferte auch eine nicht repräsentative Mitgliederbefragung, die von „wir pflegen“-Vorständin Edeltraut Hütte-Schmitz präsentiert wurde. Ihr Fazit: „Es sind hauptsächlich Maßnahmen, die in Betrieben ganz allgemein und nicht speziell für pflegende Angehörige gelten, die die Vereinbarkeit erleichtern, wie beispielsweise flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit zum Homeoffice.“
Projektleiterin Dr. Sarah Hampel vom Kuratorium Deutsche Altershilfe informierte über das vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW und den Pflegekassen getragene Programm „Vereinbarkeit Beruf & Pflege“. Das Landesprogramm will die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege für Beschäftigte mit Pflegeverantwortung in NRW verbessern und damit einen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten. Hierzu werden Unternehmen, Behörden und Organisationen dabei unterstützt, sich pflegefreundlich auszurichten, zum Beispiel durch die Qualifizierung betrieblicher Pflege-Guides. Betriebliche Pflege-Guides sind Beschäftigte eines Unternehmens, die eine Qualifizierung zum Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege absolviert haben und Kolleginnen und Kollegen, die Angehörige pflegen, als Vertrauensperson mit Beratung und Informationen unterstützen. Dazu steht ihnen der „betriebliche Pflegekoffer“ zur Verfügung. Dort finden sich – digital aufbereitet – alle relevanten Informationen rund um das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Pflege.
Unter dem Label „Best Practice“ haben anschließend drei Unternehmensvertreterinnen und -vertreter nachahmenswerte Beispiele aus der Praxis ihrer Betriebe vorgestellt, die dazu dienen, die Beschäftigten bei der Vereinbarkeit zu unterstützen und sie so in der Erwerbstätigkeit zu halten.
Tilman Heitbrink, Geschäftsführer der Seniorenbetreuung Home Instead in Bochum, zeigte auf, wie Unternehmen in Zusammerbeit mit Pflegedienstanbietern die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf durch spezielle Dienstleistungsangebote fördern können. Dazu gehören unter anderem ambulante Pflegedienstleistungen in akuten Notfällen, Tagespflegeplätze in Unternehmen sowie konkrete Schulungen und Beratungen für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Diese Angebote könnten durch spezielle vertragliche Vereinbarungen von Pflegedienstanbietern mit den Unternehmen bereit gestellt werden, schlug Heitbrink vor.
Im Evangelischen Kirchenkreis Dortmund engagiert sich Diane Spitz, Teamleiterin des Arbeitsbereichs Gesundheit, als ausgebildete „Betriebliche Pflege-Guide“. In dieser Funktion bietet sie Kolleginnen und Kollegen eine Erstberatung zu professionellen Pflege-, Beratungs- und Unterstützungsangeboten sowie rechtlichen Grundlagen an. Mitarbeitende mit Angehörigen, die pflegebedürftigsind, können dieses Angebot als „Auszeit Pflege“ während der Arbeitszeit als kleine „Auszeit“ von Beruf- und Pflegealltag in Anspruch nehmen. Außerdem hat der Kirchenkreis die Charta zur „Vereinbarkeit von Beruf und Pflege“ in NRW unterzeichnet. „Diese Maßnahmen sind klare Zeichen unserer Unterstützung und Wertschätzung für unsere pflegenden Mitarbeitenden“, betonte Spitz.
Bei der Katholischen St. Paulus Gesellschaft, die in und um Dortmund mehrere Krankenhäuser mit rund 5.000 Beschäftigten betreibt, ist die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege eine der zentralen Aktivitäten des „JoDo Familienservice“. Deren Leiterin, Erika Meier, hat sich ebenfalls zum Pflege-Guide qualifizieren lassen. „Es geht vor allem darum, die Mitarbeitenden aufzuklären und ein individuell passendes Unterstützungsangebot zu finden“, erläuterte Meier ihren Job. Wichtig sei dafür eine gute Vernetzung vor Ort mit Seniorenbüros und Pflegestützpunkten. Als besonderes Highlight stellte sie das Angebot „Zeit für sich“ ihres Arbeitgebers vor. Zweimal im Monat ermöglicht dieses Angebot den Mitarbeitenden, ihre pflegebedürftigen Angehörigen für ein paar Stunden in eine Senioreneinrichtung zu bringen und die freie Zeit für Erledigungen oder für Entspannung zu nutzen. Damit alle die Angebote kennen, kommuniziert Meier die familien- und pflegeorientierten Angebote über das Intranet, über Prospektständer in der Cafeteria und einem der Gehaltsabrechnung beigelegten Newsletter.
In der Diskussionsrunde mit Referentinnen und Publikum wurde deutlich, dass es in unserer alternden Gesellschaft und vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels von großer Bedeutung ist, dass pflegende Beschäftigte Beruf und Pflege unter einen Hut bringen können, damit sie dem Unternehmen als Arbeitskraft erhalten bleiben.
Völz betonte, dass Unternehmen Mut bräuchten, um neue Wege zu gehen, und dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen lauter werden müssten, um Gehör zu finden. Nach Ansicht von Meier wird in vielen Betrieben noch nur an Kinderbetreuung und Kitaplätze gedacht, wenn es um die Familienfreundlichkeit des Unternehmens geht. Mit Blick auf pflegende Beschäftigte sei ein Umdenken gefordert.
Zum Schluss der Veranstaltung fasste Ott die wichtigsten Erkenntnisse des Tages zusammen. Sie unterstrich, dass es notwendig sei, politische Rahmenbedingungen anzupassen, um pflegende Angehörige in ihrer Mehrfachbelastung zu entlasten, und dass Unternehmen in der Pflicht stehen, Lösungen zu entwickeln, um diese gesellschaftliche Verantwortung zu tragen. Um die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zu verbessern, bedarf es nicht nur des Zusammenspiels von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen. „Gefragt sind funktionierende Sorgenetzwerke, in denen auch Kommunen, Pflegedienstleister und Krankenkassen integriert sind“, resümierte Ott.